Bogen vom Barock bis in die Vormoderne gespannt
2 August 2016
Mit dem italienischen und vielfach preisgekrönten Organisten Giorgio Parolini gastierte am Sonntagabend ein international gefragter Konzertvirtuose beim 12. Marbacher Orgelsommer auf der Voit-Orgel der Alexanderkirche.
So freute sich Bezirkskantor Hermann Toursel vor rund 160 Besuchern, dass der 1971 geborene „Ausnahmekünstler“, der von 1999 bis 2012 Hauptorganist der Basilika Sant’Eufemia in Mailand war, die Schillerstadt als eine der Stationen seiner Deutschlandtournee auserkoren hat. Ahnlich wie die russische Organistin Yulia Draginda, die in diesem Jahr den Orgelsommer eröffnete, folgte Parolinis einstündige Darbietung einem fein gewirkten, chronologischen Programmfaden, der einen barocken Auftakt mit einem romantischen Hauptteil verband und bis in den Anfang des 20. JahrhundertS hinein verlängerte – und hinterließ auf vergleichbar hohem Niveau dennoch einen komplett anderen Eindruck. Ohne dass Stücke im direkten Vergleich zu hören gewesen wären, lud der Orgelsommer so zu reizvollen und erhellenden Gegenüberstellungen ein. Beide arbeiteten mit Kontrastbildungen, aber während die Virtuosität bei Draginda zutemperamentvollem, körperlichem Ausdruck fand, wirkte der Zugriff des Norditalieners ungleich vergeistigter. Wo die Russin mit dramatischen Konturen eine enorme emotionale Sogwirkung erzeugte, begeisterte Parolini mit sensibler Klanggestaltung, die mehr auf Vermittlung als auf Konfrontation von Gegensätzen rekurriert. Transparenz und Synopsis zählen zu den Grundwerten in Parolinis Musizierhaltung, Verführung statt Überwiiltigung heißt seine künstlerische Strategie, wie sich bereits mit J.S. Bachs Sinfonia der Kantate „Wir danken dir“ (BWV 29) in der Bearbeitung von Alexandre Guilmant zeigte: Fließendes Laufwerk, bestechend die vornehme Zurückhaltung in der Präsentation der prachtvollen Motivketten seiner die Eleganz des in Leipzig 1731 entstanden Werks betonenden Interpretation. Ungemein kantabel im Anschluss die Orgelfassung der Bach-Kantate „Ertödt‘ uns durch dein Güte“ (BWV 22) von Maurice Duruflé, gedämpfte Kontrapunktik in gemessenem Tempo. In idealer Weise der romantischen Stimmung der Voit-Orgel von 1868 entsprechend die folgenden zwei der „Sechs Fugen über den Namen B-A-C-H“ op. 60 von Robert Schumann (1810-1856): Seitwärts entwickelt zunächst das Thema der Fuge Nr. 1 in B-Dur, getragen in den Schatten gerückt, bis das Stück mit triumphalem Gestus in einem dramatisch dimensionierten Finale kulminiert. Ohne derartige Zuspitzung die Fuge Nr. 3 in g-Moll, die ihrem Beinamen „Mit sanften Stimmen“ alle Ehre macht: ein behutsames Wiegen in gedeckten Registern. Hochoriginell Franz Liszts Bearbeitung von „Der Gnade Heil“, dem Pilgerchor der Oper „Tannhäuser“ seines späteren Schwiegersohns Richard Wagner: empfindsam, andächtig, in ausgeprägter Chromatik und wendungsreichem Pianissimo arbeitet Parolini luzide den in die Moderne weisenden Charakter heraus und verleiht dem Stück so etwas wie einen avantgardistischen Unterton. Zwei Werke von Johannes Brahms (1833-1883) waren dazu angetan, in den vollen Klangfarbreichtum einzutauchen: wundervoll gestaltet „Herzlich tut mich verlangen“ op.122 Nr. 10, zartintoniert der pastorale Lobpreis von „Herzlich tut mich erfreuen“ op.122 Nr. 4. Feierlich und introvertiert „Ave Maria“ op. 80 Nr. 5 von Max Reger (1873-1916), feinsinnig und kultiviert Parolinis Anschlagstechnik auch im Andantino op. 51 Nr. 2 von Louis Vierne (1870-1937). Sonore Register im Forte des spannungsreichen „Rédemption“ op. 104 Nr. 5 des italienischen Komponisten Marco Enrico Bossi (1861-1925), zuversichtlich sein „Chant du soir“ op. 92 Nr. 1. Vielfältige Registerwechsel prägten die abschließende „Rapsodia italiana“ von Pietro Alessandro Yon (1886-1943), suitenartig und toccatenhaft, mit folkloristischen Tanzpassagen durchwoben, fast kindlich verspielt und nahezu überdreht gipfelte der grandiose Schlusspunkt in breiten Akkorden. Das enthusiastische Publikum entließ den Organisten nicht ohne Zugabe: Stehende Ovationen folgten auf den „Rondo G-Dur“ von Giuseppe Gherardeschi.
Harry Schmidt (Ludwigsburger Kreiszeitung, 2/08/2016)